Die Möwe – Aufführung des Jahres 2023
Die Mitglieder der TheaterGemeinde Berlin haben Thomas Ostermeiers Inszenierung »Die Möwe« von Anton Tschechow mit großer Mehrheit zur Aufführung des Jahres 2023 gewählt.
Die Inszenierung von Thomas Ostermeier feierte seine Uraufführung am 7. März 2023. Es spielen Joachim Meyerhoff, Thomas Bading, Laurenz Laufenberg, David Ruland, Renato Schuch u. a.
Die Preisverleihung fand am 2. Juni 2024 im Rahmen einer Festvorstellung in der Schaubühne statt. Den Publikumspreis „Aufführung des Jahres“ vergibt die TheaterGemeinde Berlin seit 1982.
Bei dem Preis handelt es sich um eine künstlerisch gestaltete Urkunde im Plakatformat. Sie wurde im klassischen Buchdruck (Letterpress) von der Druckerei Bölling gedruckt.
Konzept & Gestaltung: Patrick Marc Sommer
typoint [www.typoint.com]
Illustration: Alexandra Turban
[www.alexandraturban.de]
Laudatio zur Preisverleihung, gehalten von Renate Jungehülsing
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder und Freunde der Theatergemeinde!
Ich begrüße Sie herzlich und erlaube mir, mich kurz vorzustellen: mein Name ist Renate Jungehülsing, ich bin im Vorstand der Theatergemeinde.
Wer verdient Erfolg? Das ist eine der Fragen, die Tschechows „Möwe“ stellt.
Verdient ihn der junge Schriftsteller Konstantin, der auf der Suche nach neuen Formen und neuen Perspektiven für das Theater ist?
Oder ist der ältere Erfolgsschriftsteller Trigorin, der weiß, was seine Leserinnen wollen und der es ihnen unermüdlich liefert, derjenige, der den Erfolg verdient?
Und wenn man den Erfolg hat, verdient man dann auch die geliebte Frau? Oder die prestigeträchtigste? Und welche ist das?
Ist es die Ältere, die berühmte Schauspielerin, die Diva, die wunderbar dramatisch übertreibt, ansonsten aber knallhart kalkuliert und weiß, wieviel Geld und Arbeit man in Outfit und Auftritt stecken muss? Oder die Jüngere, die davon träumt, Schauspielerin zu werden, und die in naiver Form die Erfolgsmenschen bewundert und am Ende den einen romantisch liebt?
In Thomas Ostermeiers Inszenierung wird auf der Basis von Tschechows Text offengelegt, wie Erfolg und Liebe zusammenhängen. Dass es manchmal nicht genug um den Zusammenhang von finanziellem Verdienst und Erfolg geht, mahnt der Lehrer Medwenko an, der gern ein Stück darüber sehen würde, wie unsereiner lebt. Einer mit großer Familie und wenig Geld. Einer, der zwar die Geliebte, bekommt, aber doch nur verliert.
Doch zurück zu den liebenden und rechnenden Künstlerinnen und Künstlern: Tschechow und Ostermeier sezieren und zeigen, wie es ist, nicht, wie es sein soll. Am Ende leider eigentlich so simpel wie bei Abba: The Winner Takes It All.
Dieser Gewinner namens Trigorin namens Joachim Meyerhoff nimmt sich alle und alles: Mit Selbstzweifel, mit Komik, mit Eitelkeit, mit Ehrlichkeit, mit verführerischer Überheblichkeit.
Genauso wenig wie die sich verliebende Nina Augen und Ohren lassen kann von diesem Clown mit Tiefgang, genauso wenig können wir es. Und fragen uns zudem, ob er über sich, den Bestsellerautor Meyerhoff spricht? Oder über Trigorin, die dargestellte Figur? Oder über die Gewinner dieser Welt überhaupt?
Wie diese Gewinner auch heißen mögen, es stört sie nicht weiter, wenn die Verlierer sich eine Kugel in den Kopf jagen. Es stört sie im Übrigen auch nicht, wenn ein Kampfjet über ihren Köpfen hinwegfliegt – vielleicht lässt sich ja auch damit noch irgendwie Gewinn machen.
Die böse Komödie unter der Platane zeigt Gleichgültigkeit, Vergeblichkeit, Lächerlichkeit und Liebesleid. Zeigt Irrungen und Wirrungen der Kunst und des Gesprächs über Kunst. Dargeboten in einer eigenen Textfassung des großartigen Ensembles, das hier nur in Ansätzen gewürdigt werden kann: Da ist das sich ganz Hin- und Aufgeben von Laurenz Laufenberg, die reflektiert-düstere, manchmal komische Authentizität von Hêvin Tekin, die sensible Verletzlichkeit von Alina Vimbai Strähler, die sich unter Allüren versteckende Kälte von Stephanie Eidt, der lebensklug-egoistische Pragmatismus von Axel Wandke, die selbstmitleidige Hellsicht von Thomas Bading, die unter jovialer Dienstfertigkeit aufscheinende, gewaltige Wut von David Ruland, das defaitistisch sich ins Schicksal fügen von Renato Schuch, das Changieren zwischen Leid und Lebenslust, Resignation und Aufbegehren von Ilknur Bahadir. Über den alle Register ziehenden Joachim Meyerhoff wurde bereits gesprochen.
Wer oder was aber verdient nun wirklich den Erfolg? Tschechow und Ostermeier halten Gewinnern wie Verlierern den Spiegel vor, beantworten unsere Frage aber nicht.
Sie hingegen – liebe Mitglieder der TG Berlin, verehrtes Publikum – haben eine solche Antwort: Sie haben mit großer Mehrheit diese „Möwe“ zur Aufführung des Jahres gewählt. Herzlichen Glückwunsch an das Ensemble der Schaubühne, an Thomas Ostermeier zu diesem verdienten Erfolg!
Renate Jungehülsing
Stellvertretende Vorsitzende
TheaterGemeinde Berlin e. V.